Rückblick
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"In diesen Wochen zählte vor allem der Mensch"
Vorgestern Abend Auftakt für Veranstaltungsreihe zum "Herbst '89" mit Friedensgebet und Ausstellungseröffnung im "Stern"

Borna. "Zehn Jahre sind eine kurze Zeit, aber sie reichen aus, um zu vergessen." Was da Oberbürgermeister Bernhard Schubert vorgestern (Mittwoch, 6. Oktober 1999) Abend zur Eröffnung der Ausstellung "Herbst '89" im "Goldenen Stern" sagte, erklärte zunächst recht präzise den Sinn der Exposition über die jüngste Bornaer Geschichte. Doch war diese Anmerkung des derzeitigen Rathauschefs auch in anderer Hinsicht zutreffend. Immerhin sollte es exakt eine Stunde und fünf Redner dauern, bis beispielsweise das Neue Forum als ganz entscheidender Faktor des Umbruchs überhaupt Erwähnung fand - und dafür mussten die Bürgerrechtler selbst sorgen.

Das Interpretieren von Geschichte ist eben immer subjektiv, wie Ernst Scheibe, langjähriger Bornaer Pfarrer seinem Grußwort vorausschickte. Noch konkreter formulierte es später Hannelore Naß: "Es gibt sehr unterschiedliche Ansichten, wer nun eigentlich die Wende hervorgerufen hat." Und selbst um den Gebrauch des Wortes "Wende" gibt es harsche Auseinandersetzungen - geprägt hat es immerhin Egon Krenz.

Doch möglicherweise macht ja gerade diese Vielfalt der Interpretationen zum "Herbst '89" den Reiz jener Veranstaltungsreihe aus, welche die gleichnamige Arbeitsgruppe organisiert hat. Auftakt für die Wochen des Erinnerns war vorgestern kurz nach 18:00 Uhr in der katholischen Kirche, wo am 6. Oktober '89 das erste Friedensgebet stattfand. Sehr eindrücklich erinnerte sich der damalige Pfarrer Thomas Schorcht an diese Zeit: "Es gab einen außergewöhnlich langen Fürbitten-Teil. Da merkte ich: Das Anliegen war im Herzen der Menschen." An die 70 Bornaer seien zu diesem ersten Friedensgebet gekommen, beim zweiten waren es schon hundert. "Wir formulierten unsere Ängste, aber auch unsere Kraft", so Schorcht. Als es damals in der katholischen Kirche zu eng wurde, zogen die Christen in die Stadtkirche, wo schließlich eine "Ökumenische Andacht zur Erneuerung der DDR" stattfand, so Schorcht.

"Die kirchlichen Gruppen hatten eine gewaltige Vorarbeit geleistet, damit es im Herbst friedlich blieb", meinte Hannelore Naß später zur Eröffnung der Ausstellung und nannte als Beispiele die Umweltgottesdienste und das Christliche Umweltseminar Rötha. Die eigentliche Wende, so Ernst Scheibe, "wurde von einzelnen Personen getragen und verantwortet. In diesen wenigen Wochen zählte vor allem der Mensch".

Menschen, wie die Begründer des Neuen Forums, so Stadträtin Heike Knechtel gegen Ende der Eröffnungsveranstaltung. "Dietmar Matzke, Hartmut Rüffert, Silke Krasulsky, Gerhard Fritzsche - es sind Einzelne gewesen, die die Wende in Gang gebracht haben." Viele Helden habe es damals gegeben, findet Hannelore Naß. Wenngleich jene sich kaum als solche empfinden. "Ein Held bin ich nie gewesen", rief Gerhard Fritzsche ins Publikum. Und dabei hatte er schon im Sommer '89, während dies Ausreisewelle gen Westen wogte, an die DDR-Staatsführung Kritisches geschrieben und später mit dem Neuen Forum und im Bürgerkomitee zur Auflösung des MfS den Umbruch vorangetrieben.

Eines Abends will Fritzsche mit seinem Trabi zur "Stasi-Festung" geknattert sein - eine Episode, die vorgestern Abend selbst seine Mitstreiter vom Neuen Forum sichtlich überraschte. "Stacheldraht, zehn Mann Bewachung, vier große Schäferhunde - und plötzlich ging das Tor auf", so Fritzsche. "Und da war ich drin."

Es sind wohl Geschichten wie diese, die den "Herbst '89" mit Leben erfüllen. Und wer sich die Zeit nimmt, wird in der vorgestern Abend eröffneten, etwas kopflastigen Ausstellung auf viele solcher Geschichten stoßen. Banal und erschreckend. Wie die Zeit aus der sie stammen.
Text: Frank Döring, Leipziger Volkszeitung (08.10.1999)
Fotos: Andreas Döring
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