Rückblick
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Lilly Lindner liest zweimal in Borna
29. Mai

Borna (nn). "Vielleicht. Ganz vielleicht. Gibt es eine Version von meinem Leben, in der ich nicht vergewaltigt worden bin. Vielleicht. Ganz vielleicht. Hätte ich dann nie angefangen, zu hungern und meine Tage zu zählen..." So beschreibt Lilly Lindner in ihrem autobiografischen Roman "Splitterfasernackt", was ihr Leben so unsäglich tief verletzt hat und wie sie darum ringt, in ihrem Körper zu Hause zu sein. Am 29. Mai 2013 ist die junge Autorin zweimal in Borna zu Gast - und zwar um 15:15 Uhr im Gymnasium Am Breiten Teich und um 19:30 Uhr im kirchlichen Ladencafé Offenkundig.

In ihrem zweiten Buch "Bevor ich falle" beschäftigt sich Lilly Lindner mit dem Tod, mit Verlust und Verletzung, aber auch mit der Möglichkeit der Vergebung, des Friedens, und das alles mit einer unglaublichen Wortgewalt.

Die Autorin wurde 1985 in Berlin geboren. Bereits mit 15 Jahren begann sie autobiografische Texte und Romane zu schreiben. Sie verbringt viel Zeit mit der Arbeit mit Kindern.
Text: Leipziger Volkszeitung (16.05.2013)
Foto:

Handreichung mit Kunstblut
Autorin Lilly Lindner stellt sich mit einer ungewöhnlichen Lesung im Café Offenkundig vor

Borna. Ungewöhnliche Lesung vorgestern Abend (Mittwoch, 29. Mai 2013) im Café Offenkundig: Die Berliner Schriftstellerin Lilly Lindner stellte ihre Autobiografie "Splitterfasernackt" vor, in der es um Missbrauch, Prostitution und Essstörungen geht. Dabei blickte die Autorin ihrem Publikum fest in die Augen.

Lilly Lindner, 1985 in Berlin geboren, setzt sich nicht mit ihrem Buch hinter einen Schreibtisch mit Leselampe, um den Tisch sozusagen zum Schutzschild gegenüber dem Publikum werden zu lassen. Sie hält noch nicht einmal ein Buch in den Händen. Im Gegenteil. Sie nimmt es und reißt einzelne Blätter heraus, die sich dann auf dem Boden verteilen. Davor hat sie bereits Manuskriptblätter, mit roten Flecken benetzt, Gemälde, die aussehen wie von Kinderhand gemalt, und Bonbons wild auf dem Boden verteilt. Einen Stoß roter kleiner Zettel wirft die zierliche junge Frau direkt ins Publikum. Lilly Linder zeigt den Menschen von Anfang an ihre Gefühlswelt. Ihre Sprache ist dabei ihr Körper, ihre Worte und ihr Handeln.

"Es gab viele letzte Tage in meinem Leben. ... Ich habe mich großzügig über die Zeit verteilt." Lilly Lindners Sprache ist poetisch und gewinnt dabei an Authentizität. Sie spricht über eine Stunde lang frei. Die Besucher im Offenkundig müssen sich entscheiden, ob sie diesem Blick standhalten können und sich so vollkommen auf die Geschichte einlassen können. Denn es ist keine einfache Geschichte, von der die Autorin erzählt. Es ist ihre eigene Geschichte, in der sie den frühen Freitod ihrer Mutter erlebt, ihre erste Vergewaltigung schildert, ihr Leben als Prostituierte und die Folgen, die sich aus so viel Schmerz ergeben: Magersucht, Gewalt gegen sich selbst.

In Lilly Lindners Lesung ist viel inszeniert. Zwischen den Textpassagen finden musikalisch untermalte Szenen statt, in denen sie von Isabella Vinet unterstützt wird, die sie entweder spiegelt oder mit der sie spielt. Trotzdem hat der Zuschauer nicht den Eindruck, einem Theaterstück beizuwohnen, sondern es entsteht ein sehr intimes und persönliches Gefühl. Die junge Frau tut alles, um ihr Publikum mit einzubinden. Jede Handlung ist symbolisch. Gemeinsam mit Isabella Vinet wirft sie rote Wollknäuel in das Publikum und spinnt so ein rotes Netz, mittendrin die Menschen, die ihr zuhören. "Wenn ihr euch umseht, dann fragt ihr euch vielleicht, worin ihr verwickelt seid", sagt die junge Frau mit direktem Blick.

Lilly Lindner zwingt ihr Publikum hinzusehen, ohne sich dabei zur Schau zu stellen. Am Ende sitzt sie ihrer Spielpartnerin gegenüber, sie haben Kunstblut an den Händen. Sie gehen ins Publikum und reichen den Menschen die tropfende Hand und blicken ihnen lange in die Augen. Worte sind nicht nötig, die Menschen im Publikum bleiben tief berührt zurück. Am Ende der Lesung tritt eine nachdenkliche Stille ein. Einige Besucher beginnen auf dem Boden die Zettel, Zeichnungen und Bonbons einzusammeln und zu sortieren.
Text: Ines Neumann, Leipziger Volkszeitung (31.05.2013)
Foto:


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Fotos: Philipp Ramm
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